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Erinnerte Natur
(Ludger Busch, 1988)

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Erinnerte Natur
"Ich wollte im Gespräch mit anderen die eigene künstlerische Isolation durchbrechen. Ich habe meine absoluten Wertvorstellungen relativieren und damit zu meiner eigenen Arbeit und ihren Absichten am meisten beitragen können. Das ist der eigentliche Ertrag der letzten sechs Jahre."

Bemerkenswerte Worte aus dem Munde eines Künstlers, dem seine zurückliegende Verbandstätigkeit nahezu alle Kräfte für die eigene Malerei raubte, der durch eben diese Arbeit in ständigen Konflikt zu seiner künstlerischen Berufung geriet.

Die Ausstellung bietet Gelegenheit, den Künstler Rolf Liese nicht nur neu zu entdecken, sondern auch aufmerksam zu machen auf die Kontinuität und Stringenz eines bildnerischen Denkens, über dessen geistige Hintergründe und Erkenntnisse die folgenden Gesprächsnotizen Aufschlüsse geben sollen. Die äußerst sparsam verwendeten und immer wiederkehrenden Motive in den Bildern Lieses verleiten zu vereinfachenden und vorschnellen Schlüssen. Seit nunmehr achtzehn Jahren kennt man diese typischen Gegenüberstellungen von signalhaften Zeichen hier und flächig glatten Landschaftsdarstellungen dort. Wo liegen die eigentlichen künstlerischen und geistigen Motive für eine solche, exzessive Haltung der eigenen Bildwelt gegenüber. Die erste Antwort Lieses darauf fällt fast unerwartet aus. Sie führt zurück in die frühen Jahre der künstlerischen Entwicklung: "Ich hatte damals gelernt: ein Maler malt, ein Anstreicher malt an. Anstreichen ist keine Kunst. In dieser engen Welt, die ich verinnerlicht hatte und die auch durch das Studium auf der Akademie nicht in Frage gestellt wurde, bin ich aufgewachsen. Mit Dispersion anstatt mit Öl zu malen bedeutete auf der Akademie damals schon eine kleine Revolution. Ich habe also angefangen mit Landschaftsmalerei (1952), bald danach auch mit figürlichen Darstellungen. Das war Malerei ganz im Sinne des Expressionismus und Impressionismus. Van Gogh und Picasso etwa haben eine große Rolle in diesem Zusammenhang für mich gespielt. Diese Phase der emotional durchlebten, gegenständlich begründeten, wenn auch "tachistisch" verfremdeten Malerei war indes von relativ kurzer Dauer. Der Versuch, die emotional malerischen Beweggründe in eine klare Formensprache zu bringen, trat von nun an in den Mittelpunkt meines künstlerischen Interesses. Der Bruch mit dem eigenen Traditionsverständnis war, wegzugehen von dieser "kostbaren" Malerei und sich hinzuwenden zu einer anonymen Bildsprache, in der die Fläche alle Spuren von Faktur und Struktur, von individueller Aussage also, tilgen sollte. Schablonenmalerei ist hier wohl das treffende Stichwort.

In diesem Zusammenhang war meine Begegnung mit der Pop Art etwa um das Jahr 1970 von entscheidender Bedeutung. Ich meine damit nicht inhaltliche Übereinstimmung mit dieser Kunstrichtung. Es war vielmehr der formale Aspekt, die ganz andere Art und Weise zu arbeiten, die den Blick auf völlig neue Darstellungsmöglichkeiten öffnete. Der Begriff der "neuen Landschaft", der für meine Absicht eine große Rolle spielt, wurde geboren. Diese Landschaft unterscheidet sich von dem, was vorher war und vor allem von dem, was ich vorher tat in krasser Form. Der Eingriff des Menschen in die Landschaft: "An genau diesem Punkt setzt ein, was bis heute mein Thema in der Malerei geblieben ist.

Die Begegnung mit der Pop Art, mit Künstlern wie Wesselmann, Warhol, Lichtenstein oder Stella hat mir die Scheu vor der Fläche genommen. Ich begann, erste Bilder flächig umzumalen und ich stellte fest, daß ich die Raumwirkung, die ich eigentlich immer haben wollte, erreicht hatte."

Ein zweites, persönliches Erlebnis wirkt formal prägend auf die künstlerische Umbruchstimmung in der Malerei von Rolf Liese zu dieser Zeit: "Die Rückkehr aus dem abstrakten Denken in die erlebte Wirklichkeit führte über das Erlebnis des Unterwegsseins, der tatsächlichen Grenzüberschreitungen und zahlreichen Reisen im In- und Ausland. Dabei begegnete ich ständig den für den Straßenverkehr typischen Rot-Weiß-Zeichen, den Warnschildern und den Zollschranken. Seit dieser Zeit haben diese Zeichen Eingang in meine Malerei gefunden. Ich habe mit ihnen zunächst nicht mehr und nicht weniger verbunden, als einen wirksamen Kontrast zur malerischen und natürlich-gegenständlichen Wirklichkeit in meinen Bildern herzustellen. Mit erzählerischen Absichten haben diese Zeichen zum vorliegenden Zeitpunkt noch nichts zu tun. Sie stehen als abstrakte Chiffren für die Anwesenheit des Menschen in einer artifiziellen Natur."

Die ästhetische Ordnung des Bildes, die rein malerischen Aspekte der Bildfindung dominieren also in einem künstlerischen Gestaltungsprozeß, in den nichts desto weniger gegenständliche oder natürliche Eindrücke aus der erlebten Wirklichkeit Eingang finden. Wie also steht es um den "Realisten" Rolf Liese. "Die ideologisch festgelegten Begriffe von Naturalismus oder Realismus passen nicht auf meine künstlerische Arbeit. Meine Bilder sind zwar gegenständlich - im Gegensatz zur abstrakten Malerei etwa - sie sind aber nicht realistisch oder gar naturalistisch in dem eben genannten Sinne.

Für mich hat die Tatsache, zu malen, immer einen sehr abstrahierenden Vorgang bezeichnet. Er hat seine ganz eigene Wertigkeit und mit Botschaft oder erzählerischen Absichten im Sinne eines Abbildens von äußeren Wirklichkeiten nicht zwangsläufig etwas zu tun. Der Natur in der Malerei durch die Vielfältigkeit ihrer Mittel möglichst nahe zu kommen, hat als Methode ausgedient. Diesen Bereich bildnerischer Berichterstattung haben im 20. Jahrhundert längst andere Medien wie die der Fotografie, des Films oder Fernsehens übernommen.

Bilder setzen sich im Kopf eines Menschen zusammen, beruhen nicht zwangsläufig darauf, daß auf einem Bild dasselbe zu sehen ist, was man in natura irgendwo sehen könnte. In diesem Sinne sind meine Bilder eigentlich sehr abstrakt: Die blaue Fläche sagt: Ich bin ein Himmel, die grüne Fläche bedeutet: Ich bin eine Wiese oder eine Ebene; ein Strich oder eine hingetupfte Fläche wiederum behauptet von sich: Ich bin eine Straße oder ein Baum. Ich habe demnach überhaupt nicht den Ehrgeiz, etwa einen Baum in der Vielfalt seiner Erscheinung in der Natur zu malen. Es geht um die "Essenz" des Baumes wie aller weiteren von mir benutzten, gegenständlichen Motive. Für mich ist Landschaft in meinen Bildern ein ganz künstliches Gebilde. Hierher gehört auch die glatte Malweise. Das Ganze zielt auf einen schematischen Realismus, ganz abgesehen einmal davon, daß unsere Natur, also auch die Natur, die ich male, ja gar keine Natur mehr in ihrem ursprünglichen Sinne ist. Sie ist zwar (noch) keine Stadtlandschaft, ich bezeichne sie aber als Land-Landschaft, als Agrikultur-Landschaft, als Menschen-Landschaft. Die Natur ist nurmehr das Resultat der Zivilisation."

Demnach genügt es nicht mehr, die Bilder alleine aus ihrem Anspruch ästhetischer Selbstgenügsamkeit erklären zu wollen. Sie stellen auf der sinnbildlichen Ebene den kritischen Bezug zur erlebten Wirklichkeit gleichsam rückwirkend her. Sie erheben sehr wohl einen moralischen Anspruch, auch wenn dieser von Beginn an gar nicht beabsichtigt war: "Meine Beschränkung auf wenige Zeichen in den Bildern ist das Resultat eines abstrakten, rein bildnerischen Denkens. Das Zeichen, welches am wenigsten "authentisch" ist, eignet sich am meisten für meine Aussage. Mit anderen Worten: Der allgemeine Nenner interessiert mich. Das Leitmotiv des 20. Jahrhunderts ist das Zeichen. Das Leitfossil unserer Zeit ist das Straßensignal. Ich habe am Anfang nicht gedacht, daß ein so einfaches Motiv wie das des rot-weißen Stabes in einer Landschaft, d. h. ein solcher, ganz allgemeiner Landschaftseindruck ein Thema über so lange Zeit für mich abgeben könnte. Daß sich die inhaltliche, ursprünglich mit positiven Werten besetzte Aussage meiner Zeichen im Verlaufe der Zeit änderte, hängt mit den damals erschütternden Berichten des "Club of Rome" zusammen. Angesichts der drohenden Zerstörung der Welt durch den Menschen, der Erschöpfbarkeit seiner lebensnotwendigen Reserven in der Natur, schlug meine ursprünglich optimistische, man kann auch sagen künstlerisch naive Haltung dem Leben gegenüber um in einen Pessimismus. Mein Gedanke damals war: Vielleicht habe ich als Mensch keine Zukunft mehr, zumindest aber kann und darf ich mich als Künstler darauf nicht mehr berufen. Ich darf also nicht mehr warten. Dieses Erlebnis, eigentlich keine Zeit mehr zu haben, um untätig zuzusehen, hat mir dann in Zusammenhang mit den vorhergehenden, formal-bildnerischen Überlegungen dazu verholfen, mich diesen neuen Inhalten zu nähern. Mir war dabei klar, daß man dies in anderen Medien und mit anderen Mitteln als denen der Malerei viel besser den Menschen vermitteln könnte. Auf der anderen Seite gab es damals nur wenige Künstler, die ähnlich empfanden und also bildnerisch entsprechend arbeiten. Diese störenden, zeichenhaften Elemente in deinen Landschaften, was bedeuten sie? So lautete eine viel gestellte Frage damals. Es geht - und das war die Botschaft und Antwort - um Bewußtmachung: Der Mensch fährt mit seinem Auto in die Natur und dabei an unzähligen Verkehrsschildern vorbei. Er fotografiert einen Naturausschnitt, der frei von all diesen Schildern, Hinweis- und Verbotszeichen ist. Er sucht also auf ganz künstlichen Umwe-gen die Idylle, die es so gar nicht mehr gibt: Natur als Erinnerung. Die Erfahrung zerstört das Naturerlebnis.

Und so ist es mit meinen Bildern. Meine "Wäldchen" zum Beispiel erzeugen im Betrachter zunächst einen positiven "Aha-Effekt". Das heißt aber schon, daß er realiter nicht genau hingesehen hat, sich also hat einfangen lassen von einer Übertragung von Realität, die es so gar nicht mehr gibt. Es ist ein doppelbödiges Spiel, welches ich in meinen Bildern betreibe.

Ich gebe nur den Hinweis auf ein Bild, das den Titel "Die Hirten" trägt und geradezu politischen Charakter hat. Zunächst haben die hier verwendeten Zeichen den Sinn, Farbe in den Bildzusammenhang zu bringen. Die haben weiterhin die Funktion, räumliche Distanzen und das Spannungsverhältnis von Lebendigkeit und starrer Ordnungsvorstellung spürbar zu machen. Dann haben die Zeichen aber auch inhaltliche, d. h. nicht malerische Funktionen: Rundes Emblem als Verbot, aber auch als Symbol für Sonne, als Hoffnungsträger in weiterem Sinne. Diese sinnbildhaften Hinweise bezeichnen in ironischer Form die Funktionalität unserer Welt, verweisen auf diejenigen, die unsere ganze persönliche Welt kanalisieren, jegliche Möglichkeit, lebendig oder anders zu sein, verhindern wollen. Die Signale sind zum Träger eines negativen Menschenbildes geworden.

Sie sagen: Dieser Platz wurde vom Menschen betreten, okkupiert und schließlich zerstört. Man kann dies auch rein bildnerisch verstehen. So nahmen die Signale in meinen Bildern zunächst ein Viertel des dargestellten Raumes ein. Dann ging ich dazu über, sie auf die kleinstmögliche Größe zu reduzieren, ohne daß sie dabei an ihrer ursprünglichen Wirkung verlören. Das Gleiche geschah in umgekehrtem Sinne, also im Hinblick auf ihre Vergrößerung. In allen Fällen blieben die Zeichen gleichsam "persönlich" präsent. Fazit ist: Wir können ohne Signale nicht mehr leben. Sie sind die Grammatik unseres täglichen Lebens. Die Widersprüchlichkeit des menschlichen Verhältnisses zum Signal ist künstlerische Absicht und Motivation meiner Bilder geblieben. Und diese Widersprüchlichkeit habe ich in die abstrakte Bildsprache meiner Arbeiten übertragen, ohne auf meine persönliche Handschrift, auf meine eigenen Übersetzungen verzichten zu wollen. In diesem Sinne sind die von mir verwendeten Zeichen zu einer Art malerischer Assoziationsebene geworden. Ihre fest umrissene, geometrische Form beispielsweise drückt für mich die unmittelbare Konfrontation zu jeglicher Spontaneität aus. Hierher gehören des weiteren die "überschmierten" Signale. Sie wurden zum Aktionsfeld menschlicher Frustration und sind Ausdruck ansonsten verhinderter, menschlich spontaner Handlung. Solche und ähnliche Veränderungen der tatsächlichen Zeichenfläche verleihen dieser immer wieder neue Bedeutung und bieten sich mir an. Mich interessiert nicht, etwas Vorgegebenes im Sinne eines Fundstückes auszustellen. Es interessiert mich also nicht, etwa einen Baumstamm wegen seiner schönen Rinde herzunehmen. Was mich interessiert, ist seine aussagestarke Form, die für mich erst dann einen wirklichen Sinn bekommt, wenn ich sie so bearbeitet habe, daß sie durch meine künstlerische Setzung individuellen und unverwechselbaren Charakter annimmt, zu einer Arbeit von mir wird. Das kann soweit gehen, daß ich einen Birkenstamm hernehme, um dessen schwarzweiße Rinde entsprechend der vorgegebenen Form- und Farbstrukturen in Öl nach - oder überzumalen. Wichtig für meine Arbeit ist also, solange etwas zu gestalten oder umzugestalten, daß es nur mit mir identifiziert werden kann".

Eine solche, künstlerische Aneignung von Welt vermag trotz aller geistigen Setzungen den Widerspruch von Kunst und Leben, von Mensch und Natur nicht zu beheben. Wo also liegt das Zentrum, aus dem Liese seine Hoffnungen auf eine gebesserte, umfassend menschenwürdige Lebenshaltung schöpft? Wo liegen die Möglichkeiten zur Entwicklung? "Mein Weltverständnis ist aufklärerisch, und dies durchaus in historisch-philosophischem Sinne. Wenn ich überhaupt an eine Fortentwicklung des Menschen glaube, dann nicht durch Missionierung der Welt, sondern durch Klärung von Welt. Nur wenn eine Sache klar erkennbar ist, kann man mit ihr umgehen. Kunst heute ist die ganz kleine Möglichkeit, solche Klärungsprozesse in Gang zu setzen. Bevor zum Beispiel alle Welt wußte, was ein Biotop ist, bevor der Begriff "Umwelt" in den allgemeinen Sprachgebrauch überging, waren es tatsächlich die Künstler, die als erste dieses Thema ins Bild gesetzt haben.

Dies muß man sich vor Augen halten, wenn ich sage, daß ich überhaupt nichts davon halte, bestehende Grenzen zu verwischen. Im Gegenteil: Um aktiv werden zu können, muß man Grenzen betonen, nicht zementieren, aber deutlich auf sie aufmerksam machen. Ich halte überhaupt nichts davon, sich etwa ins "Grenzenlose" zu verlieren, eine undifferenzierte Emotionalität zu provozieren. Es geht mir vielmehr darum, Tatbestände zu verstehen und diese anderen deutlich zu machen. Eine zentrale Rolle in meiner Malerei hat deshalb immer die Zueinanderordnung von Gegensätzen gespielt. An erster Stelle wäre hier die Gegenüberstellung von geometrischer Form = Zeichen und naturhafter Erscheinung = Landschaft zu nennen. Die gestische Pinselschrift erscheint als eine Sprache unter anderen in meinen Bildern.

Sie kontrastiert mit den glatten Flächen, mit Dreidimensionalitäten und anderen formalen Gegesätzen. Im Idealfall ist alles so aufeinander abgestimmt, daß jedes seinen Platz im Bildkontext findet. Ein wichtiges Motiv in diesem Zusammenhang ist das des "Bildes im Bild". Es geht hierbei um eine ganze Werkgruppe, in welcher Skizzenblätter, die in das Bild integriert wurden, Erinnerungen oder zusätzliche Vorstellungen zum bildnerischen Thema wachrufen. Für mich enthält das Motiv des Bildes im Bild einen entscheidenden Hinweis auf meine künstlerische wie geistige Grundhaltung: Es geht um die Relativierung von Absolutheitsansprüchen. Ich glaube nicht an das von uns Erreichbare, Absolute. Ich glaube an den einen Aspekt, an die eine Möglichkeit von mindestens zweien, meistens von mehr Möglichkeiten.

Mich beschäftigt immer wieder die Vorstellung, was eigentlich am Ende des Lebens da sein könnte. Für mich bedeutet dies, alle Aspekte des Daseins in meine Malerei zu integrieren, so daß ich schließlich sagen darf: Das ist ein Ganzes. Es enthält Kopf und Bauch, Schmerz und Lust, alles, was zum Leben gehört, aber als Ganzes gesehen."

Ludger Busch, im März 1988


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