zurück
ohne Titel
(Rolf Liese)

als PDF downloaden

Es ist noch nicht sehr lange üblich, daß ein Kunstwerk durch seinen Künstler einen eigenen Namen bekommt, einen Bild-Titel.

Solange jeder, den es anging den Inhalt eines Bildes lesen konnte oder erklärt bekam, mußte kein Name dafür gefunden oder erfunden werden. In früheren Sammlungsbeschreibungen oder Katalogen werden Kunstwerke mehr oder weniger umständlich nach ihrem Inhalt beschrieben und nur selten gab es kurze, prägnante Namen wie z.B. "das Pelzchen" für ein Aktportrait das Rubens von seiner zweiten Frau gemalt hat.

Erst als nach 1800 die Zahl der freiberuflich, also nicht mehr in Herrschaftsdiensten, arbeitenden Künstler sprunghaft zunahm, als auf breiter Ebene Ausstellungen in Kunstvereinen organisiert wurden und ein bürgerliches Sammlerpublikum entstand, brauchte jedes Werk einen Namen. Damit war dann klar, von welcher Arbeit gesprochen wurde und so konnten verbindliche Werkverzeichnisse erstellt werden.

Es gibt zwei Arten von Bild-Titeln: die beschreibenden und die interpretierenden und natürlich gibt es Mischformen. Die erste Gruppe überwiegt deutlich bis ins frühe 20. Jahrhundert. "Stilleben mit gerupfter Pute", "Die Kathedrale von Chartres", "Nächtliches Ständchen" oder "Thusnelda im Triumphzug des Germanicus" benennt, was zu sehen ist bzw. liefert die Inhaltsangabe in Kurzfassung.

Die zweite Gruppe der Bild-Titel bekommt nach wenigen Vorläufern erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gewicht. Die Symbolisten formulieren Bildtitel, die eine poetische Ergänzung zur Darstellung sind, oft betont rätselhaft. Die Surrealisten des 20. Jahrhunderts und ihre näheren und weiteren Verwandten treiben die Beziehung zwischen Bild und Text auf die Spitze. Die Titel werden unabdingbar Teil des Bildes, als Anstoß, sich Gedanken zu machen, aber auch als Trittbrett für Ärger und Gelächter. (Max Ernst: "Der Elefant Cele-bes", Paul Klee: "Engel bringt das Gewünschte") Sogar Konstruktivisten greifen zu inhaltlichen Titeln (Piet Mondrian: "Broadway Boogie-Woogie").

Mit der Entfernung vom wiedererkennbaren Gegenstand und mit der Erfindung der ungegenständlichen Kunst bekommen Titel für das Publikum ein neues Gewicht als vermeintliche Interpretationshilfe und sind Anlaß für eine unendliche Reihe von Ärgernissen und Mißverständnissen.

Die Künstler beginnen, eigene Benennungssysteme zu entwickeln - "Komposition" plus Zusatz, "m-x-36", "mit gelbem Fleck" o.a. Werkreihen werden durchnummeriert oder mit der Entstehungszeit bezeichnet, einige erfinden eigene Kunstworte (Bernhard Schulze: Migof) oder nehmen zufällig herumliegende Begriffe aus dem Tagesgeschehen als Titel.

Immer häufiger wird seit den 70er Jahren die lapidare Verweigerung: "o.T". - ohne Titel verwendet.

"o.T.", das kann die Aufforderung an die Betrachter sein, sich unabhängig von vorformulierten Begriffen ein Bild vom Bild zu machen, den eigenen Einstieg zu suchen.

Es kann die Scheu des Künstlers bezeichnen, seine persönlichen Gedankenverbindungen preiszugeben und sich damit den Wort- und Inhaltsbetrachtern auszuliefern, die dahinter das Bild nicht mehr sehen können. Es kann die Unsicherheit des Künstlers zeigen, das genau treffende Wort als Titel zu finden.

"o.T." kann aber auch eine Zwischenlösung sein, ein Wartezustand, bis entweder dem Künstler oder einem Betrachter ein treffender Name einfällt für ein Werk, der dann auch anderen ganz selbstverständlich geläufig wird.

Rolf Liese


zurück