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Es ist noch nicht
sehr lange üblich, daß ein Kunstwerk durch seinen Künstler
einen eigenen Namen bekommt, einen Bild-Titel.
Solange jeder, den es anging den Inhalt eines Bildes lesen konnte oder
erklärt bekam, mußte kein Name dafür gefunden oder erfunden
werden. In früheren Sammlungsbeschreibungen oder Katalogen werden
Kunstwerke mehr oder weniger umständlich nach ihrem Inhalt beschrieben
und nur selten gab es kurze, prägnante Namen wie z.B. "das Pelzchen"
für ein Aktportrait das Rubens von seiner zweiten Frau gemalt hat.
Erst als nach 1800 die Zahl der freiberuflich, also nicht mehr in Herrschaftsdiensten,
arbeitenden Künstler sprunghaft zunahm, als auf breiter Ebene Ausstellungen
in Kunstvereinen organisiert wurden und ein bürgerliches Sammlerpublikum
entstand, brauchte jedes Werk einen Namen. Damit war dann klar, von welcher
Arbeit gesprochen wurde und so konnten verbindliche Werkverzeichnisse
erstellt werden.
Es gibt zwei Arten von Bild-Titeln: die beschreibenden und die interpretierenden
und natürlich gibt es Mischformen. Die erste Gruppe überwiegt
deutlich bis ins frühe 20. Jahrhundert. "Stilleben mit gerupfter
Pute", "Die Kathedrale von Chartres", "Nächtliches
Ständchen" oder "Thusnelda im Triumphzug des Germanicus"
benennt, was zu sehen ist bzw. liefert die Inhaltsangabe in Kurzfassung.
Die zweite Gruppe der Bild-Titel bekommt nach wenigen Vorläufern
erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gewicht. Die Symbolisten formulieren
Bildtitel, die eine poetische Ergänzung zur Darstellung sind, oft
betont rätselhaft. Die Surrealisten des 20. Jahrhunderts und ihre
näheren und weiteren Verwandten treiben die Beziehung zwischen Bild
und Text auf die Spitze. Die Titel werden unabdingbar Teil des Bildes,
als Anstoß, sich Gedanken zu machen, aber auch als Trittbrett für
Ärger und Gelächter. (Max Ernst: "Der Elefant Cele-bes",
Paul Klee: "Engel bringt das Gewünschte") Sogar Konstruktivisten
greifen zu inhaltlichen Titeln (Piet Mondrian: "Broadway Boogie-Woogie").
Mit der Entfernung vom wiedererkennbaren Gegenstand und mit der Erfindung
der ungegenständlichen Kunst bekommen Titel für das Publikum
ein neues Gewicht als vermeintliche Interpretationshilfe und sind Anlaß
für eine unendliche Reihe von Ärgernissen und Mißverständnissen.
Die Künstler beginnen, eigene Benennungssysteme zu entwickeln - "Komposition"
plus Zusatz, "m-x-36", "mit gelbem Fleck" o.a. Werkreihen
werden durchnummeriert oder mit der Entstehungszeit bezeichnet, einige
erfinden eigene Kunstworte (Bernhard Schulze: Migof) oder nehmen zufällig
herumliegende Begriffe aus dem Tagesgeschehen als Titel.
Immer häufiger wird seit den 70er Jahren die lapidare Verweigerung:
"o.T". - ohne Titel verwendet.
"o.T.", das kann die Aufforderung an die Betrachter sein, sich
unabhängig von vorformulierten Begriffen ein Bild vom Bild zu machen,
den eigenen Einstieg zu suchen.
Es kann die Scheu des Künstlers bezeichnen, seine persönlichen
Gedankenverbindungen preiszugeben und sich damit den Wort- und Inhaltsbetrachtern
auszuliefern, die dahinter das Bild nicht mehr sehen können. Es kann
die Unsicherheit des Künstlers zeigen, das genau treffende Wort als
Titel zu finden.
"o.T." kann aber auch eine Zwischenlösung sein, ein Wartezustand,
bis entweder dem Künstler oder einem Betrachter ein treffender Name
einfällt für ein Werk, der dann auch anderen ganz selbstverständlich
geläufig wird.
Rolf Liese
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